Meine Vorfahren väterlicherseits stammen aus Italien, genauer gesagt aus dem Aosta-Tal. Dieses lateinische Erbe wurde gefeiert, manchmal aber auch verteufelt. Man sprach vom «italienischem Temperament» – nicht immer positiv gemeint. Ich hingegen war immer stolz darauf und bin es bis heute. Meine italienische Grossmutter heiratete einen Winterthurer Maschinen-Ingenieur, der sein Leben der Sulzer widmete.
Meine Grosseltern mütterlicherseits kamen aus Winterthur – oder war es doch das Tösstal? Sie gehörten zu einer bescheidenen Arbeiterfamilie. Ich erinnere mich nicht mehr genau.

Meine Eltern zogen schon in jungen Jahren nach Lausanne. Dort wurde ich geboren. Mein Vater arbeitete in der Schmuck- und Uhrenindustrie, hauptsächlich in Genf. Ich wuchs in Nyon und Genolier auf. Das kleinstädtische Nyon gefiel mir weit besser, vor allem wegen der Nähe zum See. Mein erster «Jugendschatz» und ich unternahmen dort romantische Spaziergänge, assen Glacé auf Bänkchen, hörten den Möwen zu und entdeckten, was es heisst, das erste Mal Schmetterlinge im Bauch zu haben. Wir haben sogar heute noch losen Kontakt. Mit meiner Mutter fütterte ich Enten; im Winter hingen wegen der Bise dicke Eiszapfen und Eisgebilde an den See-Brüstungen. Dieses Bild fasziniert mich bis heute. Der Geruch und die Geräusche des Sees ziehen mich bis heute an, auf jeder Reise, bei jedem Ausflug – und sie fehlen mir in Winterthur. In Biel habe ich sie bereits wiedergefunden. Vielleicht ist es wegen des Sees, dass Blau seit meiner Kindheit meine Lieblingsfarbe ist.
Die lateinischen Wurzeln meines Vaters machten sich deutlich bemerkbar: Er fühlte sich in der Romandie pudelwohl, während meine Mutter wohl am liebsten gleich am nächsten Tag in die Deutschschweiz zurückgezogen wäre. Ich erinnere mich, wie sie uns Kindern erzählte, sie könne sich nicht vorstellen, einmal auf dem Friedhof in Nyon beerdigt zu werden. Damals war sie etwa 30. Heute, mit 78, lebt sie im Aargau. Der «Röstigraben» in der Familie: «Ja weisch, das isch halt wälsch.» – «das isch doch die dütschwizer ängstirnigkeit.» Und ich mittendrin.

In der Schule war es manchmal nicht anders: «deine Eltern sind totos.» Der familieninterne und schulische «Röstigraben» belastete mich als Kind. Ich konnte ihn oft nicht nachvollziehen. In beiden Kulturen war ich verwurzelt und identifizierte mich damit, und ich mochte die Schule. Meine Freunde waren fast alle Romands, und auch unter den Lehrern gab es welche, die ich sehr schätzte, vor allem wenn sie Humor hatten und an mich glaubten. Sprachlich, kulturell und musikalisch fühlte ich mich klar zur französischen Seite hingezogen. Vom Deutschunterricht wurde ich dispensiert und musste nur zu den Prüfungen erscheinen. Dafür waren meine französisch-Aufsätze chronisch, bis auf den Inhalt, schlecht bewertet: zu einfache Sprache. Die Schwäche der Bilingue – keine Sprache kann ich richtig (heute hilft mir die KI).
Oft fuhren wir an Biel vorbei, um unsere Grosseltern in Winterthur zu besuchen. Auf der Autobahn sah ich, nachdem ich die schöne Seeküste bewunderte, die zweisprachigen Schilder: «Biel/Bienne». Ich erinnere mich, wie ich dachte: «Wenn wir hier wohnen würden, gäbe es den Röstigraben nicht.» Dieses kleine Symbol auf der Autobahn fühlte sich an wie eine Brücke zwischen den Welten – eine Brücke, die ich als Kind schon gesucht habe.

Nach der Schulzeit absolvierte ich meine Ausbildung in Nyon. Wie so viele Jugendliche rebellierte ich, und weder meine Eltern noch ich hatten grosse Freude aneinander. Ich fand sie stur und engstirnig, sie mich wohl mühsam. Mit 19 zog ich nach Winterthur – gedankenlos in Bezug auf meine Zukunft. Aus praktischen Gründen bezog ich ein Zimmer bei meiner Grossmutter, hatte noch etwas Familienanschluss und bekam dank Vitamin B einen ersten Job. Zwei bis drei Jahre wollte ich bleiben, dann zurück in die Romandie. Solange, bis ich Deutsch schreiben konnte und mein eigenes Leben gestalten konnte. Mein kleiner, damals weisser Nissan Cherry mit roten Polstern beherbergte mein ganzes Hab und Gut. Auf der Fahrt hatte er ausgerechnet eine Panne bei Châtel-St.-Denis, ein bisschen vor dem «Röstigraben» als wollte er mich nicht gehen lassen– aber Sorgen machte ich mir keine. Das Leben schien mir offen und ich war frei.
Mein erster Kulturschock in Winterthur wartete in der «Villa-Wahnsinn» mit 19 Jahren. Die «Neue Deutsche Welle» prallte auf meine auf «Chansons mit 80er Synthi» getrimmten Ohren. Die Sprache schien mir so hart, und die Musik, naja… Meine Klicke schwärmte von «Werner Beinhart», Charlotte Gainsbourg und «L’effrontée» interessierte niemanden. Und Doch wie das Leben spielt: 34 Jahre später lebe ich immer noch in Winterthur. Deutsche Musik ist aber nie «meins» geworden.
Biel/Bienne liess mich aber nie los. Ich unternahm Ausflüge mit meinen Kindern, die Stadt diente uns als Zwischenhalt auf Roadtrips ins Burgund. Ich lernte die Stadt auch in den letzten Jahren immer wieder kennen, ging immer wieder hin – und Biel/Bienne fühlte sich mehr und mehr wie ein «ich fühl mich hier wohl» an, bestimmt auch wegen der vielen Logos der Uhrenindustrie, die mir ein Gefühl von Heimat geben. Winterthur ist eben Winterthur. Nicht die Stadt meines Herzens, irgendwie da gestrandet. Lausanne? Auch nicht mehr. Zu deutschschweizerisch geprägt bin ich mittlerweile, um wieder dorthin zu ziehen. Aber Biel/Bienne? Das scheint wie ein logisches Einmitten.

Deshalb beginnt nun mein neues Abenteuer: Umzug und Arbeit in Biel – dort, wo sich meine beiden Welten treffen und der «Röstigraben» eher Stolz als Belastung bedeutet.
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